Am Volkstrauertag hatte die Kameradschaft Ehemaliger Soldaten Rüthen in Absprache mit der Stadt eine Gedenkfeier organisiert. Nach einem Gottesdienst in der St. Johanneskirche wurde am Ehrenmal auf dem Friedhof ein Kranz niedergelegt. Kameradschaftsoberst Thomas Rüther übergab das Wort an Wolfgang Henze. Der betonte in seiner Rede, wie bemerkenswert es ist, dass Deutschland nach seiner sich aufgeladenen Kriegsschuld von den Staaten aufgefangen wurde, über die es so unvorstellbar großes Grauen gebracht hatte. In einer intensiven Auseinandersetzung mit Kriegsschuld, Kriegsverbrechen und Völkermord sah er einen wichtigen Auftrag auch des Volkstrauertages, der über das Gedenken in wichtiger Weise hinausgeht. „Und es sind nicht nur terroristische Anschläge“, sieht er Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit auch durch die Herausforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft gefährdet, in der beispielsweise digitale Medien eine Plattform für undemokratisches Gedankengut bieten. Vor dem Hintergrund rief Henze zu einer intensiven Auseinandersetzung mit unserer widersprüchlichen Geschichte und den Werten unserer Gesellschaft auf. Musikalisch gestalteten die Bergstadtmusikanten die Gedenkfeier am Volkstrauertag.
Die Rede von Wolfgang Henze
Sehr geehrte Damen und Herren,
Am 1. August 1914 vermerkte der Schriftsteller Franz Kafka in seinem Notizbuch: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Nachmittags Schwimmschule.“ Diese, im Nachhinein irritierende Notiz wird vielfach zitiert, wenn es darum geht, Deutschlands Zeitgeist zu Beginn
des 1. Weltkrieges nachzuempfinden. Der nach
Weltmacht strebenden deutschen Gesellschaft war schlicht nicht bewusst, dass mit diesem, durch „HurraRufe“ begleiteten Kriegsbeginn der Anfang der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts verbunden sein sollte. Einer Katastrophe, die Millionen von Menschen das Leben kostete. Einer Katastrophe, die unendliches Leid über unsere Welt gebracht hat. Einer Katastrophe,
die im Wesentlichen von uns Deutschen ausging.
Der Niedergang, den Deutschland dann im weiteren Verlauf erlebte, konnte im politischen, wirtschaftlichen und vor allen Dingen im moralischen Sinne nicht schlimmer sein.
Es ist deshalb schon fast irritierend, dass unser Land, trotz seiner Schuld, von den Staaten aufgefangen wurde, über die es so unvorstellbar großes Grauengebracht hatte. Wenn wir heute, etwa 75 Jahre nach Kriegsende, in einem freiheitlichen und demokratischen Land leben dürfen, ist dies alles andere als selbstverständlich.
Der Weg dahin, der mit der Befreiung am 8. Mai 1945 begann, war am Ende auch für uns Deutsche mühsam und schmerzhaft, denn er bedurfte einer intensiven Auseinandersetzung mit Kriegsschuld, Kriegsverbrechen und Völkermord. Nur durch die Unterstützung unserer Nachbarländer und befreundeten Staaten sowie durch die Auseinandersetzung mit der eigenen, teils bitteren Historie war und ist die Akzeptanz in der Staatengemeinschaft sowie das Leben in Freiheit und Demokratie möglich!
Wenn wir uns heute am Volkstrauertag des Jahres 2021, hier am Rüthener Kriegerdenkmal versammelt
haben, tun wir dies deshalb, um der unzähligen
Menschen zu gedenken, die Opfer eines Irrweges
geworden sind, der letztlich in einer menschlichen Katastrophe geendet hat.
Aber das Gedenken an sich hat nur einen recht
geringen Wert, wenn hieraus nicht das Bewusstsein
entsteht, dass Freiheit, Demokratie und vor allen
Dingen Menschlichkeit gesellschaftliche und humanistische Leitmotive darstellen, die es zu
verteidigen, aber auch immer wieder neu zu erkämpfen gilt.
Deshalb muss aus dem Gedenken auch immer ein Nachdenken, ja ein aktives Denken werden!
Dies ist gerade dann notwendig, wenn die
gesellschaftspolitische Architektur in Unordnung zu geraten droht.
Angriffe auf unsere freiheitliche Demokratie, auf
unsere gesellschaftspolitische Basis und Heimat
nehmen stetig zu. Und es sind nicht nur terroristische Anschläge, die auch wir gelegentlich zur Kenntnis nehmen wie die nachmittägliche Schwimmschule. Nein,
es sind mehr und mehr politische Attacken aus unserer eigenen Bevölkerung heraus.
Besonders im Zeitalter digitaler Medien bekommt jetzt auch der stupideste Antidemokrat seine Bühne und nutzt sie wie nie zuvor! Das Werteverständnis großer Teile der Gesellschaft verändert sich dadurch rasantund hat am Ende gefährlichen Einfluss auf unsere hfreiheitlich, demokratische Grundordnung So wichtig das Gedenken also ist – das nachfolgende Nachdenken und Reflektieren ist noch wichtiger!
Denn aus unserer schwierigen Vergangenheit ergibt sich nach wie vor die Verpflichtung, Verantwortung zu übernehmen! Diese liegt weiterhin in der Auseinandersetzung mit unserer widersprüchlichen Geschichte; liegt darin, dass wir die Verpflichtung Verantwortung zu übernehmen, an die jüngeren Generationen weitergeben; liegt aber besonders darin,
dass wir unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen achten!
Um mit den Worten des dritten Bundespräsidenten, Gustav Heinemann, aus seiner Rede zum Amtsantritt am 1. Juli 1969 zu schließen: „Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland!“